Nel und Tim kommen leise
lachend die Treppe herunter und wollen sich wohl gerade heimlich aus
dem Haus stehlen. Sie haben nur noch die nötigsten Dinge dabei, den
Rest haben sie schon vor Stunden in ihren Ford Fiesta gepackt. „Na,
ihr beiden? Seid ihr soweit?“, sage ich und dabei ist mir gar nicht
wohl bei dem Gedanken das die beiden Teenager mit ihren gerade mal 16
und 18 Jahren schon auf ein Heavy Metal-Konzert dieser Größenordnung,
das auch noch über mehrere Tage gehen soll, fahren wollen. Und dort
auch noch zusammen mit vielen weiteren Freunden in Zelten im Freien
zu übernachten, lässt bei mir als verantwortungsbewusstem
Elternteil natürlich auch keine pure Freude aufkommen. „Ja Mom,
mach’ dir mal keinen Kopf.“ sagt unser Junge und seine Freundin
stimmt ihm kopfnickend zu. Und wie es da mit den sanitären Anlagen
aussehen wird, möchte ich mir auch im Traum nicht vorstellen, denke
ich so bei mir. „Ich wünsche euch, dass das Wetter so schön
bleibt, und habt viel Spaß.“ Hoffentlich haben sie genug zu essen
dabei, geht mir kurz durch den Kopf und betrinken sich nicht sinnlos.
Was da alles passieren kann, aber schließlich sind sie noch jung und
sie daran nicht teilnehmen lassen würde ihre Entwicklung zur
Selbstständigkeit ja auch nicht gerade fördern. Das denke ich
gerade noch und im selben Augenblick streichle ich unserem Jüngsten
noch kurz über die Schulter, bevor er sie wegziehen kann, und lasse
sie, ihnen zuwinkend im Türrahmen stehend, einfach davongehen. Und
nun sagen sie mir, ob ich damit grundsätzlich falsch liege?
Nun war es soweit. Meine
Tochter hatte uns zwar sicherlich gefragt, ob sie dürfe, aber nach
einer Frage hatte es dabei nicht wirklich geklungen. Eher wie ein
Nachfragen, um sich nicht später den Vorwurf gefallen lassen zu
müssen, nicht um Erlaubnis gefragt zu haben. Sid, ihr aktueller
Freund, ein Punk, hatte sich auf ihrem Bett herumflözend natürlich
nicht an dem daraus resultierenden Disput beteiligt. So was lehnte er
stets ab. Seiner Meinung nach war alles diskutabel, aber nur Dinge,
die von unserer Seite kamen. Ihre Ansichten waren immer
wohldurchdacht und nachvollziehbar. Ich war mit ihrem geplanten
Ausflug zu diesem Punk-Open Air überhaupt nicht einverstanden. Nicht
nur, dass sie einfach aufs Geradewohl da hin wollten und ich nicht
mal wusste, wer aus der näheren Umgebung auch noch mitfuhr, sondern
uns waren im Vorfeld üble Sachen zu Ohren gekommen. Von Sex, Drogen
und extremer Musik, die wir nicht nur wegen ihrer Lautstärke,
sondern auch wegen ihrer Texte verabscheuten. Und auch der Ort des
geplanten Konzerts mitsamt seinen Sicherheitsvorkehrungen war uns
mehr als suspekt, aber man versuche das seinen vormals lieben Kleinen
einmal klarzumachen, da half alles reden nichts. Aber was soll’s.
Ich nickte es innerlich einfach ab und ließ sie fahren, wenn auch
mit einem unguten Gefühl.
Wir waren zwar früh
losgefahren, aber scheinbar nicht früh genug. Die Straßen waren
total verstopft und wir näherten uns dem Gelände, auf dem alles
steigen sollte, wenn überhaupt dann nur im Schritttempo. Natürlich
waren wir nicht richtig vorbereitet, aber das war uns egal. Aus
unserem und unzähligen anderen Autoradios, der anderen Ankommenden,
dröhnte laute Musik und man hatte fast das Gefühl, das Konzert
hätte schon angefangen. Wir hatten per Zufall davon gehört und uns
wie viele andere aus unserer Nachbarschaft auch, einfach auf den Weg
gemacht. Natürlich waren unsere Eltern damals nicht wirklich damit
einverstanden, aber wir waren ja nicht die Einzigen, die sich einfach
darüber hinwegsetzten. Vielleicht würden wir nach unserer Rückkehr
bestraft werden, aber das war es uns wert. Und obschon wir wussten,
dass wir nicht allein auf dem Weg waren, dachten wir zumindest nicht
daran, dass sich dies, wie so vieles andere auch im Nachhinein als
Trugschluss erweisen würde. Die Hälfte der Menschen, die dorthin
strebten, wurden von der Polizei wieder weggeschickt und hatte das
Nachsehen. Und dennoch drängelten sich Stunden später - und da
spielten die ersten Bands schon – über eine halbe Million
wildfremder Menschen vor der Bühne und versanken größtenteils
unter Drogeneinfluss in der Musik. Allein dadurch muss "Soul
Sacrifice" von Santana mit dem irre langen Drumsolo, des aus
Schweden stammenden jungen Michael Shrieve, ewig angedauert haben.
Das man im späteren Verlauf, also wieder zuhause angekommen,
herausbekam, dass dort vieles falsch gelaufen war, stand auf einem
anderen Blatt. Die Umstände drumherum waren allesamt unzureichend:
Die Versorgung mit ausreichend Nahrungsmitteln war schneller als
gedacht fast unmöglich geworden. Die sanitären Anlagen waren für
diese Menschenmassen völlig unzureichend. Das Gelände durch die
starken Regenfälle derart durchweicht und glich einem
Truppenübungsplatz. Makaber das dies alles uns extrem viel
abverlangte, aber durch den übermäßigen Drogenkonsum fast
niemanden zu stören schien. Da ging es den GIs in Vietnam - die sich
im Übrigen ja gar nicht so sehr von uns unterschieden - eigentlich
nur in der Hinsicht schlechter, dass viele diesen „Trip ihres
Lebens“ nicht überlebten. Uns wird immer die Musik, das
Verständnis und die Toleranz untereinander während dieses drei Tage
andauernden Happenings, das danach oftmals leichthin als Festival in
der Nähe von Woodstock bezeichnet wurde, für seine Einzigartigkeit
– obwohl es damals durchaus auch noch andere Festivals dieser Art,
wie das Monterey International Pop Festival von 1967 oder das Isle of
Wight Festival von 1968 - 70 gab - immer in unseren Herzen bleiben
und uns nie mehr loslassen.
Ich hatte ein komisches
Gefühl und dachte gerade, dass seine Mom nicht wirklich die Wahrheit
gesagt hatte, als mir zum Glück noch meine Großeltern über den Weg
liefen. Und während sie mich fragten „Na Nelly, geht’s los?“,
drückte mich Grandpa noch einmal. Wir erzählten noch mal, was uns
alles auf dem Festival erwarten würde und dabei bekamen sie dann wie
immer diesen glasigen nach innen gekehrten Blick, als wenn sie gerade
etwas genommen hätten und einem leise dröhnenden Drumsolo nachhören
würden, was ich mir aber beim besten Willen nicht vorstellen kann
...
© Bernar LeSton in
Rüsselsheim, den 05. August 2010
Ich denke, Leute, die Kinder im passenden Alter haben, können die Besorgnis von Nel's Mutter gut nachvollziehen. Das hast du in der Geschichte sehr gut rübergebracht.
AntwortenLöschenBei dem mittleren Teil wurde mir schnell klar, dass du über Woodstock sprichst.
Und die Großeltern? Wie gut, dass es, wenn auch manchmal nur in Geschichten, Menschen gibt, die sich daran erinnern, was sie selbst in ihrer Jugend so alles gemacht haben.
LG
Christine
Danke und sehr lieb von dir.
LöschenViele liebe Grüße
Bernar